Pharmystery: Thalidomid – Wirkstoff mit Skandal-Geschichte
1954 wurde das Glutaminsäure-Derivat Thalidomid entdeckt. Drei Jahre später kam das erste Arzneimittel mit dem Wirkstoff hierzulande auf den Markt – der Beginn eines folgenschweren Skandals.
Thalidomid ist ein Derivat der Glutaminsäure. Der Wirkstoff besitzt, beruhigende, schlafauslösende und antientzündliche Eigenschaften und hemmt das Wachstum einiger Krebszellen. Auf der anderen Seite wirkt die T-Substanz teratogen. Dabei wurde Contergan, das erste Thalidomid-haltige Arzneimittel, von Pharmahersteller Grünenthal ab Ende der 1950er-Jahre vielfach als praktisch nebenwirkungsfreies Schlaf- und Beruhigungsmittel vermarktet, und zwar rezeptfrei. „Unschädlich wie Zuckerplätzchen“, lautete nur eine der getroffenen Werbeaussagen.
Empfohlen wurde Contergan unter anderem bei Nervosität, Wechseljahresbeschwerden, Schlafstörungen und Angst. Außerdem wurde Thalidomid auch Schmerzmitteln zugesetzt. Denn eine tödliche Überdosierung des Wirkstoffs galt – anders als bei weiteren damals verfügbaren Schlaf- und Beruhigungsmitteln – als unmöglich.
Thalidomid: Aufstieg und Fall
Bereits wenige Jahre nach der Markteinführung deckte Contergan einen Großteil des Absatzmarktes für Beruhigungs- und Schlafmittel ab und wurde allein in Deutschland von hunderttausenden Patient:innen angewendet. Aufgrund des vermeintlich geringen Nebenwirkungsrisikos wurde die Einnahme auch Schwangeren empfohlen. Und das, obwohl bereits frühzeitig erste Hinweise auf schwerwiegende Nebenwirkungen auftraten. Diese zeigten sich in neurotoxischen Effekten, wurden jedoch zunächst weitgehend verschwiegen beziehungsweise unter anderem auf die Atombombentest der Nachkriegszeit zurückgeführt.
Ein Zusammenhang mit dem Auftreten von Fehlbildungen und Organ- sowie Nervenschäden bei Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft Contergan eingenommen hatten, gelang erst zu Beginn der 1960er-Jahre. Die Forderung nach einer Rezeptpflicht umging der Hersteller, indem das Arzneimittel innerhalb weniger Tage vom Markt genommen wurde. Zuvor kamen hierzulande schätzungsweise 12.000 Kinder mit Contergan-bedingten Schäden zur Welt – die Rede ist von „Contergan-Babys“.
Der Contergan-Skandal gab schließlich den Anstoß, um Verschärfungen des Arzneimittelrechts durchzusetzen, und zwar in Form eines neuen Arzneimittelgesetzes, das unter anderem Nachweise für die Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln als Voraussetzung für deren Zulassung vorschreibt.
Präparate mit Thalidomid sind bis heute verfügbar – müssen jedoch als sogenannte besondere Arzneimittel auf einem T-Rezept verordnet werden. Zum Einsatz kommen der Wirkstoff und seine Derivate vor allem als Immunmodulatoren bei bestimmten Krebserkrankungen und dem multiplen Myelom. Außerdem findet Thalidomid mitunter off-label bei Lepra Anwendung und wird bei dermatologischen Erkrankungen eingesetzt, wenn andere Behandlungen wirkungslos bleiben. Für Frauen im gebärfähigen Alter und Schwangere ist der Wirkstoff jedoch tabu und ein entsprechendes Schwangerschaftsverhütungsprogramm einzuhalten.
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