Die Europäische Kommission hat Anfang Januar ein Verbot für die Verwendung von Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff (E171) erlassen. Seit 7. August 2022 dürfen Lebensmittel, die Titandioxid als Zusatzstoff enthalten, nicht mehr in den Verkehr gebracht werden. Die Begründung: Bei Titandioxid bestehe der Verdacht, dass es beim Menschen eine karzinogene Wirkung habe, wenn die Substanz in Pulverform mit mindestens 1 Prozent Partikeln mit aerodynamischem Durchmesser von höchstens 10 μm eingeatmet werde. Ein Fehler, wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) urteilt.
„Die Kommission hat einen offensichtlichen Fehler bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit und der Anerkennung der Studie begangen, auf der die Einstufung beruhte, und hat gegen das Kriterium verstoßen, wonach sich diese Einstufung nur auf einen Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen, beziehen darf“, heißt es in einer Pressemitteilung des EuGH. Die Schlussfolgerung, dass die Lungenüberlastung bei dieser Studie annehmbar gewesen sei, sei daher nicht plausibel. Mehr noch: „Das Gericht gelangt daher zu dem Ergebnis, dass die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat.“
Das bedeutet: Der EuGH erklärt die Delegierte Verordnung der Kommission aus dem Jahr 2019 für nichtig, soweit sie die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid in bestimmten Pulverformen als karzinogener Stoff bei Einatmen betrifft.
Titandioxid verleiht Lebensmitteln eine weiße Farbe und kommt in Backwaren, Brotaufstrichen, Suppen, Soßen, Salatdressings und Nahrungsergänzungsmitteln zum Einsatz. Das weiße Farbpigment wird auch in Süßwaren und Überzügen, wie beispielsweise in Dragees und Kaugummis verwendet. Dabei kann Titandioxid als Trägerstoff für andere Farbpigmente dienen.
Eine Sache kann das Urteil aber nicht – nämlich die Unbedenklichkeit von Titandioxid belegen.
Rückblick und Urteil: 2016 schlug die zuständige französische Behörde der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) vor, Titandioxid als karzinogenen Stoff einzustufen. Es folgte eine Stellungnahme des Ausschusses für Risikobeurteilung der ECHA (RAC) mit dem Erggebnis, dass Titandioxid als karzinogener Stoff der Kategorie 2 mit dem Gefahrenhinweis „H351 (Einatmen)“ einzustufen sei. Auf der Grundlage der Stellungnahme des RAC erließ die Europäische Kommission die entsprechende Verordnung 2020/217 – Somit durften nur noch bis zum 7. August 2022 Lebensmittel, die Titandioxid als Zusatzstoff enthalten und gemäß den vor dem 7. Februar 2022 geltenden Vorschriften hergestellt wurden, noch in Verkehr gebracht werden.
Hersteller:innen klagten. Mit Erfolg. Der EuGH befindet, dass die Einstufung eines karzinogenen Stoffes auf zuverlässigen und anerkannten Untersuchungen beruhen muss – dies sei im Fall Titandioxid nicht erfüllt. Der Grund: Dem RAC „unterlief nämlich ein offensichtlicher Beurteilungsfehler“. Und zwar als er feststellte, „dass die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie, die er seiner Stellungnahme zur Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid zugrunde legte, hinreichend verlässlich, relevant und angemessen für die Bewertung des karzinogenen Potenzials dieses Stoffes seien.“
Konkret geht es um den Dichtewert. Der herangezogene Wert entsprach der Dichte der nicht agglomerierten Primärpartikel von Titandioxid, die stets höher sei als die Dichte der Agglomerate der Nanopartikel. Somit blieb in der Studie unberücksichtigt, dass die Dichte von Partikelagglomeraten geringer ist als die Partikeldichte und diese Agglomerate deshalb mehr Volumen in den Lungen belegen. Die Schlussfolgerung, dass die Lungenüberlastung bei dieser Studie annehmbar gewesen sei, sei daher aus Sicht des EuGH nicht plausibel. Weil die Europäische Kommission sich in ihrer Entscheidung auf die Stellungnahme des RAC stützte, hat sie folglich denselben Beurteilungsfehler begangen.
Außerdem bemängeln die Richter:innen, dass die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung gegen das Kriterium verstoßen hat, wonach sich die Einstufung eines Stoffes als karzinogen nur auf einen Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen, beziehen darf.
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